Der letzte Blick

Der letzte Blick

Diese Geschichte entstand im Rahmen des Schreibworkshops „Die gelöste Zunge“ der Universität Hamburg im Sommer 2024. Das vorgegebene Thema war „Der letzte Blick“.

Auf der Kante der Badewanne fand Martin ein paar verklebte Haare, die er mit einem Stück Toilettenpapier aufnahm und in den Mülleimer entsorgte. Aus dem Mülleimer entfernte er die Mülltüte und stellte sie auf den Flur. Er zog sich seine Gummihandschuhe an und begann nun den restlichen Teil der Badewanne und auch den Mülleimer von innen und außen zu putzen. Er fuhr fort mit der Toilette, der Dusche, dem Waschbecken und schließlich dem Fußboden. Als das Badezimmer in jeder Ecke angenehm und etwas beißend nach seinen Reinigungsmitteln roch, zog er sich zufrieden in den Flur zurück. Schließlich wischte er noch einmal über die Stelle, auf der er gerade gestanden hatte, warf einen letzten Blick in den Raum und schloss dann die Tür.

Er fuhr fort mit dem Schlafzimmer. Er suchte seine Kleidung zusammen, legte jedes Kleidungsstück sorgsam zusammen und schichtete sie in seinen Koffer. Unter dem Bett fand er noch ein benutztes Taschentuch. Das hatte er doch nicht benutzt? Vielleicht hatten es die Vormieter hier hinterlassen. Er entsorgte auch das Taschentuch in die Mülltüte auf dem Flur. Als der Koffer gepackt war, trug Martin ihn nach unten in das Erdgeschoss und stellte ihn neben die Eingangstür.

Danach kehrte er ins Schlafzimmer zurück und begann auch hier zu putzen. Die Bettwäsche hatte er schon am frühen Morgen gewaschen und auf den Leinen vor dem Fenster aufgehängt. Als auch dieser Raum den Geruch von Putzmittel angenommen hatte, zog sich Martin wieder auf den Flur zurück, wischte noch einmal über die Stelle, die er gerade verlassen hatte, warf einen letzten Blick in den Raum und zog zufrieden die Tür hinter sich zu.

Mit dem ersten Stock war er nun fast fertig; nur der Flur fehlte noch. Zuerst nahm er die Mülltüte, knotete sie zu, brachte sie ins Erdgeschoss und stellte sie neben dem Koffer an der Haustür ab. Im Flur war nicht allzu viel zu tun: Nur der große Spiegel und der Fußboden mussten gewischt werden – und natürlich die Treppe nach unten. Langsam verbreitete sich auch hier der Geruch von Putzmitteln. Martin nahm seine Putzutensilien mit und arbeitete sich langsam, Stufe für Stufe, die Treppe hinunter bis ins Erdgeschoss vor.

Im Erdgeschoss gab es noch die Küche, den Essbereich und das Wohnzimmer, die so offen gestaltet waren, dass die Räume ineinander übergingen. In der Küche hatte er das Geschirr vom Frühstück bereits gespült. Er hatte es sich ohnehin zur Gewohnheit gemacht, nur ein Minimum des bereitgestellten Geschirrs zu nutzen. Ein Glas, ein Teller, etwas Besteck, das reichte ihm. Seine Lebensmittelvorräte waren aufgebraucht. Seit zwei Jahren verbrachte er ein Wochenende im Monat in einer fremden Stadt, immer in einer anderen. Da hatte sich eine gewisse Routine gebildet.

So blieb nicht viel zu tun, außer Oberflächen und Spüle zu reinigen – und natürlich den Fußboden. Martin genoss, wie Fliese für Fliese glänzend wurde und achtete darauf, dass keine Haare oder Krümel unter die Abdeckleisten der Einbauküche gerieten. Rückwärts gehend arbeitete er sich in den Essbereich vor. Als er am Esstisch ankam, pausierte er die Arbeit am Boden, um den Tisch und die Stühle zu wischen, und fuhr dann mit dem Boden fort.

Er schloss die Reinigung des AirBnB-Appartements im Wohnzimmer ab und ärgerte sich ein wenig über das Sofa, unter dem man schlecht wischen konnte, weil es kaum einen Abstand zwischen Polster und Dielen gab. Polstermöbel mochte Martin im Allgemeinen nicht – sie ließen sich so schlecht reinigen. Aber es hatte nun mal alles andere an dieser Wohnung gestimmt: die Lage, die Größe, der Preis – und dass es nur Fliesen und Holzfußboden gab, die gut abwischbar waren.
Nach einem letzten Blick in das offen gestaltete Erdgeschoss nickte Martin zufrieden. Alles glänzte noch etwas feucht und roch angenehm und sauber. Er brachte seine Putzutensilien, die Handschuhe, die Lappen und halbleeren Reinigungsmittelflaschen sowie die zuvor abgestellte Mülltüte nach draußen und entsorgte alles in einem öffentlichen Müllcontainer ein paar Straßen weiter. Danach kehrte er noch einmal zurück zur Wohnung, nahm seinen Koffer, warf einen allerletzten Blick in den Raum und zog schließlich die Tür hinter sich zu. Den Schlüssel verstaute er in dem kleinen Tresor mit Zahlenschloss, der an der Haustür befestigt war.

Sein Mietwagen war in einer Nebenstraße geparkt. Martin öffnete den Kofferraum, verstaute seinen Koffer und setzte sich hinter das Steuer. Hatte er irgendetwas vergessen? Aus Gründen, die er sich nicht erklären konnte, hatte er ein ungutes Gefühl. Aber er hatte doch sein übliches Reinigungsprogramm durchgeführt? Es war alles so gewesen, wie er es vorgefunden hatte, sauberer noch. Oder nicht? Martin wischte den Gedanken weg und startete den Motor. Auf dem Navi war der Flughafen von Porto noch eingespeichert. Es wurde eine Fahrzeit von 27 Minuten vorhergesagt. Er manövrierte den Wagen aus der doch recht engen Parklücke und startete in Richtung Flughafen.

Schon an der ersten roten Ampel war das ungute Gefühl zurück. Es nagte an ihm, aber er konnte nicht sagen, ob die Sorge begründet oder er einfach nur übervorsichtig und vielleicht etwas nervös war. Wieder schob er die Gedanken beiseite und fuhr weiter.

Doch schon kurze Zeit später stellt er fest, dass er schon wieder an die Wohnung dachte und daran, wie er sie verlassen hatte. Vorsichtig versuchte er das Bild zu rekonstruieren, das er beim letzten Blick in die Wohnung gesehen hatte. Da stimmte doch alles, oder? Doch nach und nach tauchte ein Bild vor seinem inneren Auge auf. Da, unter dem Sofa, war da nicht ein kleiner dunkler Fleck gewesen?

Je weiter er fuhr, desto mehr nagte die Sorge an ihm. Da war doch wirklich ein dunkler Fleck gewesen. War das ein Astloch auf der Diele gewesen? Oder war es doch ein Fleck, den er hinterlassen hatte? Warum hatte er ihn beim Putzen übersehen? Warum hatte er ihn nicht weggewischt?

Martin hielt es nicht länger aus. Er machte einen U-Turn – unter lautem Hupen der anderen Verkehrsteilnehmer – und fuhr zurück zur Wohnung. Die paar Straßen zurück fuhr er fast blind vor Sorge, achtete kaum auf Verkehrsregeln oder rote Ampeln. Er hielt sich nicht mit der Suche nach einem Parkplatz auf, sondern stellte das Auto – mit angeschaltetem Warnblinker – direkt vor der Haustür ab.

Mit zitternden Fingern drehte er am Zahlenschloss, fingerte den Schlüssel aus der Vertiefung und schloss die Haustür auf. Sofort fiel sein Blick suchend auf den Boden um das Sofa herum, dorthin, wo er vor seinem inneren Auge einen kleinen Fleck gesehen hatte. Und tatsächlich: Dort, wo der Schatten des Polsters auf die Diele fiel, befand sich ein kleiner, dunkler Fleck. Er hatte seine Putzmittel bereits entsorgt! Wie sollte er diesen Fleck zuverlässig entfernen?

Er lief zurück nach draußen, zum öffentlichen Müllcontainer, steckte seinen Arm in die Einwurföffnung und versuchte seine Lappen und die Flaschen herauszuangeln. Keine Chance. Neben dem Container lagen einige Kleiderbügel aus Draht. Mit etwas Anstrengung gelang es ihm schließlich, wenigstens das Bleichmittel zu erwischen und so weit in Richtung Öffnung zu bringen, dass er es greifen konnte.

Zurück in der Wohnung zog er seine Schuhe aus, holte es sauberes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche, benetzte es mit etwas Bleichmittel und begann vorsichtig den dunklen Fleck zu betupfen. Das Taschentuch in seiner Hand färbte sich langsam rot. Immer weiter tupfte und wischte Martin, bis er zufrieden und der Fleck verschwunden war. Schließlich schlüpfte er wieder in seine Schuhe, warf einen nun wirklich letzten Blick auf die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.

Auf dem Weg zum Flughafen grübelte Martin wieder. Das hätte schiefgehen können. So unvorsichtig war er schon lange nicht mehr gewesen.


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